Guido Wertheimer
In der Spielzeit 2023/24 geht die Hausautor*innenschaft in die zweite Runde. Studierende des Studiengangs Szenisches Schreiben der UdK Berlin bekommen hier die Möglichkeit, Teil des Schauspiel Münster zu sein, hier zeitweise zu leben und zu arbeiten.
Guido Wertheimer, geboren 1996 in Buenos Aires, ist Autor und Regisseur. Seit 2020 studiert er Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin und ist Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung. Seine Arbeiten befassen sich mit Fragen der Erinnerung, der Identität, des Archivs und der Städte. Er schreibt neben Theaterstücken auch Prosa, Lyrik und Drehbücher für Dokumentarfilme. Kollektive und kollaborative multidisziplinäre Erfahrungen sind für sein Schaffen von zentraler Bedeutung. 2022 erhielt Guido Wertheimer den Preis der jungen Dramatik für sein Stück Wir werden diese Nacht nicht sterben. Für das Stück begegnet er dem Archiv seiner jüdischen Familie, die 1938 aus dem Land vertrieben wurde. Er selbst sagt über seine Arbeit, er sei „nun auf der Suche nach einer Schrift, die deterritorialisiert, migrantisch, und (de)archiviert ist. Eine Schrift, die den Raum, den sie bewohnt, zu verstehen versucht, um sich von ihm zu distanzieren. Der ständige Dialog zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen den weltlichen und politischen Kräften der Gegenwart und den Gespenstern der Vergangenheit.“
Erste Recherchephase
Ich schreibe ein Stück, das aus Fotos, Videos und Dokumenten besteht. Und auch aus den Träumen und Albträumen meiner Familie und so vielen anderen. Die Utopien, die nie waren, und die Zukunft, die nie kam. Ich schreibe ein Stück, das durch die Zeit reist. Ich begegne asynchronen Geschichten, die alle Teil desselben affektiven Feldes sind. Ich schreibe ein Stück mit anderen und für andere. Dafür verbringe ich viele Stunden im Stadtarchiv Münster. Zu viele Bilder präsentieren sich mir gleichzeitig. Es ist nicht richtig, dass die Wahrheit vor den Augen liegt, vor den Augen ändert sich die Wahrheit die ganze Zeit. Ich kann in diesem Stück nicht nach einer Wahrheit suchen. Weder im Archiv meiner Urgroßmutter Julia Studinski, noch im Bericht von Rabbiner Fritz Steinthal, noch in den Dokumenten der NS-Ordnungspolizei, noch in den Videos der Familie Gumprich oder des Tanzlehrers Estinghausen. Es gibt keine mögliche Wahrheit, sondern nur eine Möglichkeit, über die man nachdenken kann. Ich schreibe ein Stück, das meine eigene Reise durch alles ist, was ich finde und auch was verborgen ist. Sowohl in den Archiven als auch in einem Gespräch mit meinem Vater. Sowohl auf den knarrenden Holzböden von Julias Kinderzimmer als auch auf meinem Fahrrad durch die Felder des Ruhrgebiets. Manche Dinge werden bei all dieser Suche klar: So viele Geschichten wiederholen sich, so viele Diskurse tauchen wieder auf, so viele Fragen kommen immer wieder an denselben Stellen auf. Andere Dinge sind ein großes Geheimnis. Ich schreibe ein Stück, das Teil von all dem ist.
- Guido Wertheimer