Komplexe Beziehungen
Ein großer leuchtender Ring prangt auf der Bühnenrückwand, „ein Reifen“ sagt das Kind auf dem Nachbarsitz. Zum Titel des Tanzabends „Die vier Jahreszeiten“ passt die Kreisform, wandert doch die Erde um die Sonne, und wiederholen sich die Jahreszeiten ewig. Nach der vierten folgt die erste … […] „Reifen“, ein Teil des Tanzabends, holt die abstrakte Geometrie aufs Machbare, Herstellbare oder Handhabbare runter – ein angemessener Gedanke. […] Durch konkrete Umsetzung gewinnt die neue Tanzchefin am Haus, Lillian Stillwell, hier Punkte. Sie will den Tanz nah an Publikum beziehungsweise Stadtgesellschaft heranrücken, also auch mal außerhalb der Bühnen platzieren. Und um den Materialverbrauch zu schmälern, nutzen die Tanzstücke ein „Einheitsbühnenbild“ von Stella Sattler und Jonathan Brügmann aus stapelbaren Klötzen mit Ecken und breiten Rundungen. […] „Prologue“ ist das erste Stück, das der in Belgien lebende australische Tänzer James Vu Anh Pham je für ein Ensemble choreographiert hat. Dem Nachwuchs Chance zu geben, dient ebenfalls der Nachhaltigkeit. […] „Die Vier Jahreszeiten“ bejubelt das Publikum im ausverkauften Großen Haus und steht sofort auf zum Applaus. […] gewinnender sind Stillwells Zooms auf Zweier- und Dreierbeziehungen. Da tragen die Partner einander auf dem Arm, dem Rücken, quer über der Schulter, sogar kopfüber gekippt, oder lüpfen den anderen, schubsen plötzlich, umarmen, gehen weg. Das passiert einfach, Leben im Zeitraffer. Winzdramen, Winzlieben. Alles mehrfach. Wobei sich hier sozusagen jeder mit jedem paart. Schon die erdbraunen und -beigen Hosenanzüge verwischen Geschlechterunterschiede. […] Die großartigste Szene ist die stillste: Die zehn stellen sich an der Bühnenkante auf, in Reihe, kaum merklich zu Grüppchen sortiert wie Familien. Eine Hand auf einer Schulter, eine andere an einer Taille. Nähe und nahe Distanziertheit. Ernste Gesichter fürs Foto. Jemanden sacht zur Seite schieben, Plätze wechseln. Die Blicke sind auf uns gerichtet, wie aus einer Vergangenheit oder vielleicht Zukunft. […] Klänge sind Ereignisse, Tanz auch, was immer Tanz ist oder sein will oder ein Mensch, der tanzt.
Melanie Suchy, Die Deutsche Bühne online, 12.03.2023