Neue Dramatik / NEUE WEGE

Der Bundesbürger

Dokumentarstück von Annalena & Konstantin Küspert

Er war ein »Münchhausen« der bundesdeutschen Politik, der vorgab »Klartext« zu reden, um die deutsche Politik ehrlicher zu machen. Seine Selbstinszenierungen schwankten zwischen Genialität und Größenwahn. Münster wurde durch ihn immer wieder zur Bühne, manchmal sogar für die Weltpolitik. Vielleicht war es die luftige Perspektive des leidenschaftlichen Fallschirmspringers, die ihn gleichsam zum kühnen Visionär, unseriösen Paradiesvogel und »Lügenbaron« der Bundespolitik machte? Aufstieg und Fall eines Politikers, dieses gängige Erzählmuster, hatte bei ihm schließlich eine besonders tragische Dimension. Er endete im »freien Fall« auf einem Feld im Münsterland, während Einsatzkommandos der Staatsanwaltschaft seine Büros durchsuchten. Annalena und Konstantin Küspert erzählen die Schelmengeschichte eines Mannes, der Politik zur Bühne für eine Marketingshow machte und selbst sein Tod wurde noch als medialer Coup gesehen.

  • Kai Bremer, nachtkritik.de, 9. Januar 2020

    Während des gesamten Abends funktioniert das Zusammenspiel zwischen der Regisseurin und der für Ausstattung und Video zuständigen Ayşe Gülsüm Özel hervorragend. Das Stück präsentiert mal monologisch, mal szenisch Momente aus Möllemanns Leben. Messing und Özel nehmen die Vorlage auf, um für sie Bilder, Szenen und Videos zu finden, die die drei Schauspieler*innen poppig realisieren. […] Der ganze Abend wirkt nie aus einem Guss, sondern ist ein toll gewordener Eklektizismus und bringt so die Politik Möllemanns und letztlich die der gesamten FDP (bzw. F.D.P.) um die Jahrtausendwende auf den Punkt. Überzeugender kann an den Politiker wie an eine ganze Partei, die allen Ernstes Spaßpartei sein wollte, zumindest mit künstlerischen Mitteln nicht erinnert werden.

  • Thomas Hilgemeier, theaterpur.net, 9. Januar 2020

    Mit dieser Rückschau lassen Annalena und Konstantin Küspert ihre Annäherung an Möllemann, den Bundesbürger, beginnen. Ein Wagnis in einer Stadt, in der viele ihn gekannt, ihn noch erlebt oder auch nur - weil hier sein Wohnort war - eine dezidierte Meinung zu ihm haben (meinen haben zu müssen). Und doch - das wird sich im Laufe der guten Stunde schnell zeigen - eine gute, nein eine sehr gute Idee. Denn die Autoren nähern sich nicht dem Menschen, sondern dem Phänomen Möllemann. Ein Phänomen der Bonner und der beginnenden Berliner Republik, an dem Vorstufen des Populismus unserer Tage erkannt und erläutert werden. Und das zumeist pointiert mit geschliffenem Wortwitz. […] Wir erfahren locker ohne erhobene Zeigefinger oder überflüssiges Beiwerk eine Menge über die Funktionsweise von Politik, „sinnstiftenden Verzahnungen“ von Politik und Wirtschaft […]. Das alles enthüllen die Küsperts in ihrem Bundesbürger fein säuberlich, nachvollziehbar und auch mit Humor und einer Spur Nachsicht. […] Einfachheit ist hier das Wesen der Inszenierung und die trägt auch dank des Textes und dreier Schauspieler, die an diesem Abend keine Wünsche offen lassen, besonders in Hinblick auf Verwandlungsfähigkeit. […] Akteure, Regieteam und Autoren wurden vom Publikum mit Applaus überschüttet. Der Bundesbürger ist ein glänzender Mosaikstein in Schauspieldirektor Frank Behnkes bewundernswert konsequent auf bundesrepublikanische Geschichte und deutsche Befindlichkeiten ausgerichteten Spielplan.

  • Patrick Bahners, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Januar 2020

    Es greift vielleicht zu hoch, sich an den gedrängten Stil des römischen Historikers Tacitus erinnert zu fühlen, der durch den Verzicht auf Handlungsmotivierung die Politik des Übergangs von der Republik zum Kaiserreich in eine Atmosphäre der Irrationalität tauchte, aber auch hier hat das diskontinuierliche Erzählen eine verfassungsgeschichtliche Pointe: In der Demokratie bleibt das Geschichtsdrama Stückwerk, weil sie die Herrschaft der Vergesslichkeit ist. Der Neuanfang ist jederzeit möglich: Jedermann, egal was er ausgefressen oder ausgefertigt hat, kann in jedes Amt gewählt werden, benötigt nur eine Mehrheit im Saal hinter sich, dann ist alles vergessen.