1000 ZEICHEN

In diesem Blog teilen die Hausautor*innen Ivana Sokola und Jona Spreter ihre Gedanken und Eindrücke zu Münster – mit jeweils maximal 1000 Zeichen.

#9

Ich stehe auf noch vor acht Uhr, lege mich auf den Boden, strecke mich, stelle die Beine auf, rolle meine Wirbelsäule Wirbel für Wirbel ab, drehe mich, mache einen Buckel, mache mich gerade, führe den linken Arm und das rechte Knie unter dem Oberkörper zusammen, dann den rechten Arm und das linke Knie, jeweils zehnmal, wechsle ins Planking, mache abschließend zweimal zwanzig Liegestütz, dazu die Spotify Playlist Meditation Music 2023. Auf dem Weg zum Backhaus Jankord höre ich Notorious B.I.G, kaufe Croissants. Constance Debré schreibt: "Je m´étais dit que c´était intéressant de vivre quelque chose de très banal, que c´était exactement ça qu´il fallait vivre. L'important c´était de tenir. De vouloir vraiment." Spüle 10mg Escitalopram mit einem Glas Wasser runter. (772)
Jona Spreter

Jona sagt PAUSE, ich sage nein nein vielleicht. Wir kochen uns ein Reisgericht. Wir kochen uns noch ein Reisgericht. Nach Premierenabenden muss man müde sein. Die Rosen sollen vier Wochen halten, haben sie uns gesagt. (217)
Ivana Sokola

 

#8

Im Ruhrgebiet muss man nicht traurig sein. Nachts am Hauptbahnhof lauern die Taxifahrer auf Reisende, die unbedacht die Straße überqueren. Sie reißen am Lenkrad und drehen mit heiserem Lachen ab, ihre Ziele in dieser Zwangsgemeinschaft namens Heimatstadt willkommenheißend. Und wieder und wieder: Die Innenstadt nachts stillgelegt. Hier regt sich niemand, nur vereinzelt Räder über dem Kopfsteinpflaster. Alle Radler mit einem Schleier vor dem Gesicht, grüßen sich durch den Nebel hindurch, voller Sorgen über den morgigen Tag, keinerlei Konsequenzen. Selbst die Katzen fürchten sich heute vor mir. Ich nehme es ihnen nicht übel. Überhaupt sind die Augen wieder schlechter geworden / alle Vermieterinnen sagen das. (714) Ivana Sokola

"Meine engen Grenzen / Meine kurze Sicht"
Am Nebentisch trinken zwei Männer Latte macchiato
Jeder braucht einen Menschen, der ihm sagt, dass er unschuldig ist
(158) Jona Spreter

 

#7

roestbar am Theater für immer geschlossen :(( 

Probenbeginn für Farn Farn Away 

Alkoholfreies Bier um 3,50€ 

Geist ist ein Stadtteil, über den sich nichts Unheimliches sagen lässt

 

(Nur manchmal des Nachts kann man dort kleine Schnecken entdecken, deren Schleimspuren auf abbezahlten Familienkutschen in morgendlicher Sonne glitzern. Und auch die Polizei ist deswegen schon alarmiert.) (335) Jona Spreter

 

Irgendwas regt sich: Fruchtfliegen auf den Probebühnen, tote Tauben vorm Theater. Kurz vorm Dom ein Filmset, Passantinnen bleiben stehen und hoffen, am Abendbrottisch davon erzählen zu können. Vorm Catering Männer mit Schlüsselbünden. Irgendwas ist vorbei: Mottowoche der Abiturienten, eine Fee mit nackten Beinen radelt schlecht gelaunt durch den Nieselregen. In den Vier Jahreszeiten wären wir gern die erste Geige. Jona beschwert sich über seinen trockenen Mund und bestellt ein alkoholfreies Bier. (501) Ivana Sokola

#6

Und wieder vorbei. Mit Kopfschmerzen aufgewacht. Lege mir goldfarbene Augenpads vom Drogeriemarkt auf. 13359 wartet auf mich. "Autostrada deserta / Al confine del mare / Sento il cuore più forte di questo motore", singt Antonello Venditti. Die Kaninchen auf dem Ludgerikreisel haben noch nie das Meer gesehen. (309) Jona Spreter

 

 

Die automatisierte Bahnsteigdurchsage verkündet den Gleiswechsel, wieder und wieder. Dazwischen sagt ein Bahnmitarbeiter dieselben Sätze, wie um die Maschine sanft zu bestärken, die daraufhin sofort wieder ansetzt, "ich wiederhole" spricht, aus einem möglicherweise fürsorglichen Bewusstsein heraus. In Münster herrscht eine generelle Überinformiertheit, möchte ich Jona sagen, aber ich bin zu müde. Auf den Gleisen, die aus der Stadt heraus führen, geht ein Mann, pustet kleine Rauchwolken in die sonntägliche Luft, läuft zielstrebig, als ob genau hier sein Weg ist. Im Zug sitzen im Vierer neben uns ein Junge, seine Mutter, ihre Mutter und die Steffi. Die Mutter tippt Hotelbewertungen in ihr Handy und liest sie den anderen laut vor. Das Reiseziel bleibt ungewiss. Auf Jonas BeReal-Shot sehe ich nicht sonderlich lebendig aus. Aber das macht nichts. In ein paar Wochen tragen wir unsere schweren Köpfe wieder auf der Promenade spazieren. (937) Ivana Sokola

#5

Wenn wir in Münster sind, habe ich oft das Gefühl, nur noch als Theater-Jona zu existieren. Was wir denken, sagen, tun, ist Theater, wir schreiben, planen, skizzieren. Mit Schauspieler*innen und Dramaturg*innen sprechen wir über letzte und nächste Premieren und Kritiken – dabei will ich eigentlich nur fragen: 

- Wie geht es deiner Katze? 

- Ganz gut, ja.

- Ist sie noch krank?

- Die Tabletten haben geholfen.

- Und die Familie?

- Meldet sich nicht mehr bei mir.

Im Cinema & Kurbelkiste schauen Ivana und ich uns "Frau im Nebel" von Park Chan-wook an. Auf dem Heimweg überlege ich, wie viele Sterne ich dem Film geben würde. In einer Szene fliehen zwei Schildkrötendiebe auf einem Motorroller vor der Polizei, sie stürzen, die Schildkröten versuchen davonzulaufen, ihrer plötzlichen Freiheit entgegen – sind natürlich zu langsam. (830)

Jona Spreter

 

 

Manchmal hockt Jona in seinem Einzimmerapartment unten im Erdgeschoss und ich hocke in meinem hier im ersten Stock und dann schreiben wir Telegramnachrichten, in denen wir gemeinsame Termine abklären oder Screenshots von E-Mails teilen oder die Wünsche des anderen nach Backwaren abfragen. Oft endet das Gespräch mit einem Sticker, der ein Tier zeigt. Vielleicht sollten wir davon erzählen, wenn die Leute fragen, wie wir gemeinsam schreiben. Nach einer Woche graben sich die immergleichen Wege in die Stadt. Wir würden uns freuen über einen Hinweis oder einen Spaziergang, möchte ich den Leuten zurufen, haken Sie sich unter und führen Sie uns irgendwohin! Und dennoch senke ich samstags den Kopf über der großen Portion Backfisch, von einer blonden Backfischverkäuferin ausgegeben, die seltsam mechanisch lächelt. Kaufe zwei Bund Tulpen, obwohl drei günstiger gewesen wären. Immerhin mal wieder geweint im Theater vor lauter Nähe. Und dann ist es wieder schön in der Blase. (975)

Ivana Sokola

#4

Grenzkontrolle Passau, mein Wollschal riecht nach Zigarettenrauch, ich drücke mein Gesicht hinein, versuche zu schlafen. Auch ein Klinkerbau kann ein Zuhause sein, aber Wien fehlt mir doch sehr. Bei zwei Restaurants unweit des Theaters werden Ivana und ich abgewiesen: alles reserviert. Auch Parisienne Bleu kann ich in Münster nicht kaufen. Ich höre "Sidelines" von Phoebe Bridgers auf Repeat. Immer, wenn mein Herz klopft, bin ich wieder dieser 16-Jährige, den ich schon vergessen glaubte. Letztens außerdem der Gedanke: Ich habe mit dem Theaterbetrieb meinen Frieden gemacht, ich lasse mich nicht mehr aus der Ruhe bringen. Und wie mich der Text eines Kollegen dann doch wieder in die größte Unruhe bringt. Wie mich außerdem der Satz "Bitte kaufen Sie sich kein Huhn, es sei denn, Sie können sich langfristig darum kümmern" seit Kurzem begleitet. Heute wollte ich mich auf die Suche machen nach einem Pendant zu einem Kaffeehaus, aber ich habe es nicht aus dem Bett geschafft. (979)
Jona Spreter

Wir sind zurück und hausen in einem Komplex aus Ferienwohnungen oder Arbeitswohnungen oder einfach Kammern auf Zeit. Anweisungen schmücken den dunklen Flur: TÜREN GESCHLOSSEN HALTEN FÜSSE ABTRETEN RAUCHEN VERBOTEN. Auf den Regalen Kochplatten und Kaffeemaschinen. In meinem Zimmer ein Huhn aus Metall. Jona schaltet den Fernseher ein. Jona trägt einen seidenen Morgenmantel, den er kaum mehr ablegen mag, wozu auch. Vorm REWE bücke ich mich nach zwei Bünden Narzissen und werde von Rentnerinnen angerempelt. Die Münsteraner reden über Geld. Studierende lassen sich ihre Masterarbeiten binden und tragen Pferdeschwänze. Am Sonntag stehen die Familienväter vor den Bäckereifilialen und schauen in die Gegend, als sei Pfingsten oder so. Ich fühle mich seltsam betrachtet. Die unglaubliche Geschichte von der Riesenbirne gibt uns Hoffnung. (835)
Ivana Sokola

#3

Bei REWE kaufe ich Coronatests und Tütensuppen für Jona. Vor mir bezahlt eine Nonne aufgeschnittenen Leberkäse und zwei kleine Flaschen Wodka Gorbatschow. Die Kassiererin, ich kenne sie schon, redet sehr leise, hat neugierige Augen und sagte mir kürzlich etwas Privates, das ich nicht verstand. Ich muss genickt haben. Im Nieselregen laufe ich eine Weile am Aasee entlang und überall spielen die Erstsemester Bierpong, fahren die Erstsemester Bobbycar-Rennen, laufen die Erstsemester mit Bierkästen und Trichtern vor mir her. Am Hafen wirft ein Kleinkind mit vollen Händen Brot nach den Enten. Und dann fahren wir aus Münster raus, verlassen Münster, können Münster doch nicht verlassen und sehen die Alleen, die alles umgeben, überholen eine Rennradfahrerin, ein wenig zu schnell in der Kurve. Jeden Moment könnte die BURG auftauchen, sage ich zu Jona. Sie taucht nicht auf. Auch Jona redet sehr leise. Ich nicke. (914)

Ivana Sokola

 

Ich habe seit Tagen mit keinem Menschen gesprochen. Mit zwei roten Strichen schleicht sie aus, die Zeit. Im Bett schaue ich Dokus vom Schweizer Rundfunk. Der Nachbar gegenüber ist in seinem Gaming-Stuhl eingeschlafen. Manchmal sagt man zu Menschen: Ich will dich wiedersehen, obwohl das gelogen ist. Wenn wir das nächste Mal nach Münster kommen, wird eine Schneeflocke auf meinem dürftigen Schnauzer landen, stelle ich mir vor. Wir sind auf der Autobahn, ich bin erleichtert. Ivana sagt: Oliver Sim hat sein erstes Soloalbum gedroppt, mach das mal an. "What would my father do? Do I take a bite, take a bite of the fruit?" Und als wir in Berlin einfahren, über den Kontrollpunkt Dreilinden, die Abendsonne im Rücken, und sich alles anfühlt, als würden wir immer noch in den Zehnerjahren leben, da bauen wir fast einen Unfall, aber nur fast. (840)

Jona Spreter

#2

Die leuchtende Jakobsleiter am Kirchturm lässt St. Lamberti wie das Empire State Building erscheinen. Mir schwirrt der Kopf in der Theaterkantine. Die Angst ist eine Lücke, die ich immer neu befüllen muss mit Bildern. Extrablatt, Extrablatt: Das Stadtbad Mitte ist am 3. Oktober geschlossen (und dienstags auch). Der Himmel sieht wenig feierlich aus. Alaaeldin sagt, im Sommer nimmt er kein Handtuch mit zum Kanal, so nah ist seine Wohnung. Beim Münsterland Giro will ich für eine Grillwurst nicht anstehen. Die Postkarte an meine Großmutter ist überfrankiert. "Ich hoffe der Herbst macht dir nicht zu sehr zu schaffen und du verbringst viele sonnige Tage.“ Ivana, was sagte Heiner Müller über die unschuldigen Gesichter der Menschen in Westdeutschland? In Schaufensterscheiben werfe ich hastige Blicke auf mich. (812) 

Jona Spreter

 

So schnell laufen sich die Wege ein; in der angemieteten Wohnung nimmt das Sofa die Formen unserer Körper an. Dann gab es diesen Abend in der Metal-Bar und ein eigentümliches Gefühl von Altern im Jugendzentrum. Ich frage mich, wie die Sprache hier wirklich klingt und wer die Worte benutzt, die sich die Bäckereiketten in dialektaler Anbiederung an die Fenster schreiben. Menschen demonstrieren fürs GAZO und werden dabei von anderen Menschen fotografiert, gutmütig beinahe. Hat Heiner Müller je an Münster gedacht? Man lieh mir ein Fahrrad und ich bin kaum damit gefahren. Zweimal lief ich zum Aasee und drehte sofort wieder um. Der Himmel erzählt weniger und weniger je weiter der Herbst. Diese Woche nichts über die Kirchen gedacht. Eigentlich sehe ich sie schon gar nicht mehr. (781)

Ivana Sokola

#1

Es hält sich der Eindruck, hier zur Ruhe zu kommen. Beim Gang über den Prinzipalmarkt die gut gekleideten Menschen. Es ist kälter als gedacht. Ivana entscheidet sich für Wurzelgemüse. Beim Abendessen zwinge ich ihr den neuen Theaterpodcast auf. Das Gefühl, dass Münster das ist, was eine "Stadt" ist, als Stadt gewachsen. TEURER ALS PARIS, ruft einer durchs Mocambo. Ivana sagt mir, sie könne nicht aufhören, die Dinge vom Ende her zu denken, auch unser erster Aufenthalt hier sei doch schon in zwei Wochen vorüber. Ich schüttle den Kopf. Manchmal, wenn ich nicht geradeausdenken kann in letzter Zeit, gebe ich mir Ohrfeigen, ganz leichte, links rechts. Negroni Sbagliato ist ein tückischer Drink. Meine Mutter erzählt mir am Telefon, sie sei einmal im Münsterland auf einem großen Bauernhof gewesen. Bei Peek & Cloppenburg kaufe ich mir eine Steppweste. Die Blumen vor dem Rathaus sind verschwunden. Eine einzelne Kerze ist jetzt dort. (935)

Jona Spreter

 

Ich besuche den Dom. Dieser Weihrauchnebel, den man sich kaum ausdenken kann mit einem Streifen Licht dazwischen und im Stein ein Äffchen, das ein anderes hält. Wenn man nah an die astronomische Uhr herangeht, hört man sie pochen, und das scheint wahnsinnig durch die Jahrhunderte hindurch. Manchmal fragt jemand: Was denkst du über Münster, Jona? Und dann sagt Jona vielleicht was über die Altstadtfassaden. Ich versuche in dieser Woche, das Wort "Berlin" zu vermeiden. Jona verlangt es nach Rosinenschnecken, aber der Norden überzieht sie mit Marzipan und so kann er sie nicht kaufen. Ich bin ja tatsächlich daran gewöhnt. Generell am Samstag ein großes Geschnatter und eine angenehme Aufregung. Und dann wieder Glocken und ein ganz sanftes Licht. (749)

Ivana Sokola